Urteil zur Arbeitszeiterfassung: Auswirkungen auf die Überstundenvergütung?

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Das Bundesarbeitsgericht hat am 4. Mai 2022 Klarheit hinsichtlich der Auswirkungen einer (fehlenden) Arbeitszeiterfassung auf die Durchsetzung von Vergütungsansprüchen für Überstunden geschaffen: Danach obliegt es weiterhin den klagenden Arbeitnehmer*innen, konkret zu den von ihnen behaupteten Überstunden vorzutragen.

Eine vielbeachtete Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 (Az.: C-55/18) zur europarechtlichen Notwendigkeit der Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems hatte zuvor Diskussionen darüber ausgelöst, ob die arbeitgeberseitige Pflicht zur Arbeitszeiterfassung die Darlegungs- und Beweislast zugunsten der Arbeitnehmer*innen umkehrt (hierzu unser Beitrag). Dieser insbesondere vom Arbeitsgericht Emden vertretenen Ansicht hat das Bundesarbeitsgericht jetzt eine deutliche Absage erteilt.

Zur europarechtlich gebotenen Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems enthält die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die bislang nur als Pressemitteilung vorliegt, im Wesentlichen zwei Aussagen:

  • Die Entscheidung des EuGH beziehe sich auf die Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Insofern beschränke sich die Entscheidung des EuGH auf Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, um den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen zu gewährleisten. Diese Bestimmungen fänden grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung von Arbeitnehmer*innen.
  • Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit habe keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen Recht und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.

In diesem Beitrag erläutern wir die Auswirkungen dieser Entscheidung und geben einen Ausblick auf die weiteren Entwicklungen zum Thema Arbeitszeiterfassung.

Der Sachverhalt

In dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall hatte ein Auslieferungsfahrer auf die Vergütung behaupteter Überstunden geklagt. Er erfasste seine Arbeitszeit mittels einer technischen Zeitaufzeichnung, wobei jeweils nur der Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht aber die Pausenzeiten aufgezeichnet worden waren. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab sich ein positiver Saldo von mehreren hundert Stunden, für die er Überstundenvergütung verlangte. Dabei machte der Kläger geltend, er habe während der gesamten aufgezeichneten Zeit gearbeitet, weil es ihm nicht möglich gewesen sei, Pausen in Anspruch zu nehmen. Anderenfalls hätte er die Auslieferungsaufträge nicht abarbeiten können. Der Arbeitgeber bestritt dies. Der Kläger sei angewiesen worden, Pausen zu nehmen und habe dies auch getan.

Das Arbeitsgericht Emden hatte der Klage stattgegeben (Az.: 2 Ca 399/18) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, nach dem Urteil des EuGH müssten die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Diese Verpflichtung modifiziere auch die Darlegungslast in einem Verfahren zur Vergütung von Überstunden. Auf eine positive Kenntnis von geleisteten Überstunden komme es daher nicht mehr an, wenn es dem Arbeitgeber möglich wäre, sich diese Kenntnis durch die Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung zu verschaffen. Es sei deshalb ausreichend, wenn der klagende Arbeitnehmer nur die Zahl der geleisteten Überstunden schlüssig vortrage. Der Arbeitgeber müsse sodann darlegen und beweisen, dass diese Überstunden nicht geleistet wurden oder nicht erforderlich waren.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hatte das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage überwiegend abgewiesen (Az.: 5 Sa 1292/20). Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Bundesarbeitsgericht keinen Erfolg.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht bestätigte seine bisherige Rechtsprechung zur Überstundenvergütung auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH. Danach haben Arbeitnehmer*innen zur Begründung einer Klage auf Überstundenvergütung zum einen darzulegen, dass sie Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang geleistet oder sich auf Weisung des/der Arbeitgeber*in hierzu bereitgehalten haben. Da Arbeitgeber*innen nur von ihnen veranlasste Überstunden zu vergüten haben, müssen klagende Arbeitnehmer*innen außerdem darlegen, dass die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt wurden.

Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Arbeitszeiterfassung habe keine Auswirkung auf diese nach deutschem Recht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast in einem Prozess um Überstundenvergütung. Die zugrundeliegenden Bestimmungen des europäischen Rechts dienten dem Schutz der Sicherheit und der Gesundheit von Arbeitnehmer*innen, seien aber nicht auf die Vergütung anzuwenden. Insofern habe der Kläger in dem hier zu entscheidenden Fall nicht hinreichend dargelegt, dass es für ihn erforderlich gewesen sei, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Seine pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genüge hierfür nicht.

Die vollständige Urteilsbegründung bleibt abzuwarten. Mit der Entscheidung setzt das Bundesarbeitsgericht aber die im nationalen Recht etablierte Unterscheidung zwischen dem arbeitszeitrechtlichen und dem vergütungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff fort. Arbeitgeber*innen sollten insofern bei Klagen von Arbeitnehmer*innen auf Überstundenvergütung genau prüfen, ob diese den oben dargestellten Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast genügen. In der betrieblichen Praxis muss darauf geachtet werden, keine Anhaltspunkte für eine Anordnung oder Duldung nicht notwendiger Überstunden zu dokumentieren, etwa durch ein vorschnelles „Abzeichnen" von Stundenzetteln.

Ausblick zur Arbeitszeiterfassung

Auch drei Jahre nach dem Urteil des EuGH sieht das deutsche Arbeitszeitrecht noch immer keine Pflicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung vor. Zu dokumentieren ist nur die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit. Eine Pflicht zur vollständigen Dokumentation der Arbeitszeit besteht weiterhin nur vereinzelt – zum Beispiel bei geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer*innen und in den vom Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz erfassten Branchen (§ 17 Abs. 1 MiLoG i.V.m. § 2a SchwarzArbG).

Die Große Koalition hatte das Thema in den letzten Jahren ihrer Regierungszeit nicht mehr aufgegriffen – wohl auch bedingt durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie. Im Koalitionsvertrag der jetzigen Ampel-Regierung heißt es nunmehr: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein."

Das Bundesarbeitsministerium wagte Anfang 2022 in einem Gesetzentwurf zur Änderung des Mindestlohngesetzes einen ersten Vorstoß und wollte Arbeitgeber*innen zu einer „unmittelbaren und manipulationssicheren elektronischen Zeiterfassung" verpflichten. Die FDP ist dem jedoch entgegengetreten, sie hielt den Vorschlag des Bundesarbeitsministeriums in der Praxis für nicht umsetzbar. Viele Arbeitnehmer*innen würden täglich an verschiedenen Orten arbeiten und man könne sie nicht zwingen, ihre täglichen Arbeitszeiten per App am privaten Smartphone zu erfassen. Eine flächendeckende Ausstattung mit Dienstgeräten bezeichnete der sozialpolitische Sprecher der FDP als „erhebliche Belastung" für Unternehmen.

Wir werden den angekündigten Dialog mit den Sozialpartnern für Sie verfolgen und über dessen Ergebnisse berichten. Mit konkreten Änderungen des Arbeitszeitrechts dürfte nach jetzigem Stand aber frühestens im Laufe des nächsten Jahres zu rechnen sein. Unsere Prognose: Eine Verpflichtung zur umfassenden Erfassung der Arbeitszeit wird mit Sicherheit kommen, ihre konkrete Ausgestaltung bleibt abzuwarten. Arbeitgeber*innen sollten sich darauf rechtzeitig vorbereiten und insbesondere bei der Einführung neuer Software im Personalbereich schon jetzt auf entsprechende Funktionalitäten achten.

Sprechen Sie uns gern an, wenn Sie weitere Fragen zu diesen oder anderen Themen haben.

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