Seit dem 18. April 2023 liegt der schon lange angekündigte Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Neuregelung der Arbeitszeiterfassung vor. Entsprechender Handlungsbedarf bestand bereits seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Mai 2019. Dieser verschärfte sich noch einmal aufgrund einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im September des vergangenen Jahres, in der das Gericht zu dem Ergebnis kam, dass bereits nach der aktuellen Rechtslage die gesamte Arbeitszeit von Arbeitnehmer*innen vollständig aufzuzeichnen sei. Diese Erkenntnis hatte das Bundesarbeitsgericht im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung in das Arbeitsschutzgesetz „hineingelesen" (hierzu unser Beitrag). Nun wird – nach langem Zögern – endlich der Gesetzgeber tätig und will das Arbeitszeitgesetz anpassen.
Bislang handelt es sich nur um einen Referentenentwurf, der innerhalb der Bundesregierung wohl noch nicht abgestimmt ist. Mit Änderungen ist also zu rechnen. An einer elektronischen Arbeitszeiterfassung werden die meisten Arbeitgeber*innen aber künftig kaum noch vorbeikommen. Einen ersten Überblick über den Gesetzentwurf, seine wesentlichen Inhalte und die möglichen Konsequenzen für die betriebliche Praxis geben wir in dem folgenden Beitrag.
Wesentliche Inhalte des Gesetzentwurfes
Der Entwurf sieht hauptsächlich Änderungen in § 16 Arbeitszeitgesetz vor.
1. Tägliche elektronische Zeiterfassung
Arbeitgeber*innen sollen künftig verpflichtet werden, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer*innen elektronisch aufzuzeichnen. Eine Erfassung von Pausenzeiten ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass keine bestimmte Art der elektronischen Aufzeichnung vorgeschrieben werden soll. Neben klassischen Zeiterfassungsgeräten wären daher auch andere Formen der elektronischen Aufzeichnung z. B. mithilfe von Apps auf einem Smartphone oder PC, aber auch schlichte Eintragungen in Excel-Tabellen ausreichend. Die Aufzeichnungen müssen jeweils am Tag der Arbeitsleistung erfolgen und sind für mindestens zwei Jahre in deutscher Sprache aufzubewahren.
Die Aufzeichnung kann auf die Arbeitnehmer*innen selbst oder einen Dritten (z. B. Vorgesetzte) delegiert werden. Die Arbeitgeber*innen bleiben aber für die ordnungsgemäße Aufzeichnung verantwortlich. Die Gesetzesbegründung gibt hierzu den Ratschlag, die Arbeitnehmer*innen zur ordnungsgemäßen Führung der Aufzeichnungen anzuleiten. Immerhin soll die Arbeitsschutzbehörde bei Feststellung von Verstößen gegen die Aufzeichnungspflicht berücksichtigen, ob die Aufzeichnenden ordnungsgemäß über ihre Verpflichtung informiert und zumindest durch Stichproben regelmäßig kontrolliert wurden und ob der Verstoß allein auf das Verhalten der Aufzeichnenden zurückzuführen ist.
2. Persönlicher Anwendungsbereich der Aufzeichnungspflicht
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt entsprechend dem Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes grundsätzlich für alle Arbeitnehmer*innen. Ausgenommen sind gemäß § 18 Abs. 1 ArbZG insbesondere leitende Angestellte i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG und Chefärzte. Von der Praxis erhoffte weitere Ausnahmen, etwa für Mitarbeitende oberhalb eines bestimmten Gehaltsniveaus oder in bestimmten Berufsgruppen, sieht der Entwurf nicht vor.
3. Ausnahmen und Übergangsregelungen für die elektronische Zeiterfassung
Ausnahmen von der Pflicht zur elektronischen Zeiterfassung sind für Arbeitgeber*innen vorgesehen, die bis zu zehn Arbeitnehmer*innen beschäftigen. Sie können die Arbeitszeiten weiterhin in nichtelektronischer Form, d.h. manuell „mit Zettel und Stift" erfassen. Dies gilt entsprechend für Arbeitgeber*innen ohne Betriebsstätte im Inland, wenn sie bis zu zehn Arbeitnehmer*innen nach Deutschland entsenden. Ferner kann auch die Arbeitszeit von Hausangestellten in einem Privathaushalt in nichtelektronischer Form aufgezeichnet werden.
Für alle anderen Arbeitgeber*innen sollen gestaffelte Übergangsfristen für die Einführung einer elektronischen (!) Zeiterfassung gelten:
- 11 bis 49 Arbeitnehmer*innen – bis zu fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes;
- 50 bis 249 Arbeitnehmer*innen – bis zu zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes;
- Ab 250 Arbeitnehmer*innen – bis zu ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes.
4. Weitere Abweichungen nur durch Tarifverträge
Abweichungen von der Pflicht zur Zeiterfassung in elektronischer Form und von der Pflicht zur Aufzeichnung am Tag der Arbeitsleistung (bis zu sieben Tage später) sind nur in einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrages in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung möglich. In einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags kann außerdem vereinbart werden, dass die Pflicht zur elektronischen Aufzeichnung nicht für Arbeitnehmer*innen gilt, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von ihnen selbst festgelegt werden kann. Nach der Gesetzesbegründung soll dies für Führungskräfte, herausgehobene Expert*innen und Wissenschaftler*innen zur Anwendung kommen können, die nicht verpflichtet sind, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend zu sein, sondern über den Umfang und die Einteilung der Arbeitszeit selbst entscheiden können.
In der Praxis dürften derartige tarifliche Abweichungen mangels Tarifbindung oder wegen des Fehlens eines Betriebsrates für einen Großteil der Arbeitgeber*innen und Beschäftigten nicht relevant werden.
5. Vertrauensarbeitszeit
Sofern bislang eine Vertrauensarbeitszeit vereinbart ist, bei der auf eine Kontrolle der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet wird, müssen Arbeitgeber*innen künftig durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass ihnen Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung könnte dies beispielsweise mittels automatisierter Meldungen eines elektronischen Zeiterfassungssystems erfolgen. Eine Verpflichtung zur Aufzeichnung von Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit bestünde damit auch bei Vertrauensarbeitszeit. Der Kern der Vertrauensarbeitszeit, d. h. das Vertrauen in die Arbeitnehmer*innen durch Verzicht auf eine Dokumentation und Kontrolle der Arbeitszeit, wird damit entwertet.
6. Informationsansprüche der Arbeitnehmer*innen
Arbeitgeber*innen haben ihre Beschäftigten auf Verlangen über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren und ihnen eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Dies könnte insbesondere im Rahmen von Streitigkeiten über die Vergütung von Überstunden, insbesondere nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, weitreichende Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast haben (zur bisherigen Rechtslage unser Beitrag).
7. Inkrafttreten der erweiterten Aufzeichnungspflichten
Die oben dargestellten Übergangsfristen gelten nur für die elektronische Form der Zeiterfassung. Der erweiterte inhaltliche Umfang der Aufzeichnungspflicht gilt dagegen für alle Arbeitgeber*innen schon ab dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung. Abhängig vom weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens könnten die Änderungen unter Umständen schon zum 1. Juli 2023 in Kraft treten. Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit wären dann jeweils am Tag der Arbeitsleistung zumindest in nichtelektronischer Form aufzuzeichnen.
8. Ordnungswidrigkeiten und Geldbußen
Auch die Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen werden durch Anpassungen des § 22 Arbeitszeitgesetz erweitert: Danach begehen Arbeitgeber*innen eine Ordnungswidrigkeit, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig die Aufzeichnungen über die Arbeitszeit nicht oder nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig erstellen. Gleiches gilt bei Verstößen gegen die Verpflichtungen zur Aufbewahrung und Bereithaltung der Aufzeichnungen oder gegen die Verpflichtungen zur Information über die aufgezeichneten Arbeitszeiten sowie das Zurverfügungstellen von Kopien. Ordnungswidrigkeiten können mit einer Geldbuße von bis zu EUR 30.000,00 geahndet werden.
Fazit und Handlungsempfehlungen
Der vorliegende Gesetzentwurf geht in einigen Punkten deutlich über die Vorgaben der Rechtsprechung und der EU-Richtlinien hinaus. Er eröffnet nur sehr begrenzte Möglichkeiten, betrieblichen Besonderheiten Rechnung zu tragen. In weiten Teilen erscheint der Entwurf praxisfern und lässt zugleich dringend nötige Neuregelungen im Bereich des Arbeitszeitrechts vermissen, etwa zur generellen Flexibilisierung der Höchstarbeitszeiten oder zur Unterbrechung von Ruhezeiten durch das kurze Lesen bzw. Schreiben einer dienstlichen E-Mail am Abend.
Wünschenswert wäre in jedem Fall eine Ausweitung der im Entwurf vorgesehenen Öffnungsklauseln auf Betriebsvereinbarungen auch ohne entsprechende Tarifverträge. Dies würde den deutlich sachnäheren Betriebsparteien auf die jeweilige betriebliche Situation zugeschnittene Regelungen ermöglichen.
Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wird es voraussichtlich noch zu Änderungen des Entwurfes kommen. Wir beobachten die weiteren Entwicklungen und halten Sie auf dem Laufenden!
Unternehmen sollten sich aber schon jetzt auf die zu erwartenden Änderungen der Arbeitszeiterfassung vorbereiten, indem sie vorhandene Prozesse und Systeme zur Arbeitszeiterfassung überprüfen bzw. geeignete Prozesse und Systeme identifizieren und deren Implementierung vorbereiten. Die optimistische Schätzung des Gesetzgebers, dass die Kosten für die technische Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung bei EUR 450,00 pro Betrieb liegen werden, dürfte wohl an der Realität vorbeigehen. Soweit Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit schon bestehen, müssen diese ggf. angepasst werden und es können neue Betriebsvereinbarungen zur elektronischen Zeiterfassung erforderlich werden. Gern unterstützen wir Sie bei der Analyse und Umsetzung. Sprechen Sie uns an!
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