Im EU-Vergleich ist das deutsche Mitbestimmungsrecht einzigartig, denn es ist in den anderen Mitgliedstaaten entweder gar nicht oder wesentlich schwächer ausgeprägt. In dem Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hat sich die Ampelkoalition darauf geeinigt, die deutsche Mitbestimmung weiter auszugestalten. Ihr Ziel ist es, die Unternehmensmitbestimmung zu fördern und insbesondere die Möglichkeiten zur Umgehung der Mitbestimmung stärker zu begrenzen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt noch nicht vor, allerdings besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher in den nächsten Monaten veröffentlicht wird.
Status quo der Mitbestimmung und Zurechnung von Arbeitnehmern im Aufsichtsrat nach DrittelBG und MitbestG
Das Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) regelt, dass Arbeitnehmern ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat einer AG, KGaA, GmbH sowie VVaG und Genossenschaft mit in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern zusteht. In diesem Fall muss der Aufsichtsrat zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern zusammengesetzt werden. Innerhalb eines Konzerns erfolgt eine Zurechnung von Arbeitnehmern abhängiger Unternehmen auf das herrschende Unternehmen nur unter den Voraussetzungen eines Beherrschungsvertrags oder einer Eingliederung. Liegen diese nicht vor, bleiben grundsätzlich mitbestimmungsfähige herrschende Unternehmen, die ihrerseits selbst nicht die Grenze von 500 Arbeitnehmern überschreiten, mitbestimmungsfrei.
Das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) dagegen findet insbesondere auf AG, KGaA, GmbH und Genossenschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern Anwendung. Die in diesem Gesetz enthaltenen Zurechnungsvorschriften innerhalb von Konzernen unterscheiden sich von denen des DrittelbG unter anderem dahingehend, dass einem herrschenden Unternehmen die Arbeitnehmer von abhängigen Unternehmen auch ohne Beherrschungsvertrag zugerechnet werden. Zu beachten ist zudem, dass einem in den Anwendungsbereich des MitbestG fallenden Unternehmen als persönlich haftendem Gesellschafter einer KG (z. B. der GmbH-Komplementärin bei einer GmbH & Co. KG) die Arbeitnehmer der KG zugerechnet werden, wenn die Mehrheit der Kommanditisten bei der Komplementärin die Kapital- oder Stimmmehrheit innehat oder es sich um eine sog. Einheitsgesellschaft handelt. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Komplementärin einen eigenen Geschäftsbetrieb mit mehr als 500 Mitarbeitern hat.
Die Mitbestimmung in der SE und der Einfriereffekt
Bei der Societas Europaea (SE) richtet sich die Mitbestimmung nach dem unionsrechtlichen Mitbestimmungsstatut, das durch die SE-Richtlinie in Verbindung mit dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) geregelt wird. Das DrittelBG und das MitbestG finden keine Anwendung. Vielmehr gilt grundsätzlich das im SEBG vorgesehene sog. Verhandlungsmodell. Die Mitbestimmung wird durch Verhandlungen zwischen den Beschäftigten und den Organen der die SE gründenden Gesellschaften im Rahmen einer Beteiligungsvereinbarung festgelegt. Wenn keine Vereinbarung zustande kommt, findet die nach dem SEBG vorgesehene Auffanglösung Anwendung. Danach ist ein SE Betriebsrat einzurichten und der höchste Mitbestimmungsstandard abhängig von der Gründungsform und der Mitarbeiterzahl der an der Gründung der SE beteiligten Unternehmen, in denen eine Mitbestimmung bestand, anzuwenden (Vorher-Nachher-Prinzip).
Der Mitbestimmungsstatus, der zum Zeitpunkt der Gründung der SE besteht, wird fixiert und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer die SE in Zukunft beschäftigt, sog. Einfriereffekt. Dieser Effekt wird nur durchbrochen, wenn die SE von strukturellen Änderungen, die geeignet sind, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, betroffen ist. Dann kann sie verpflichtet werden, Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE wieder aufzunehmen und im Zweifel gilt die Auffanglösung. Ob strukturelle Änderungen vorliegen, muss im Einzelfall ermittelt werden. Bislang wird der Begriff restriktiv ausgelegt und es werden darunter nur Vorgänge mit gründungsähnlichem Charakter und außergewöhnlichem Gewicht verstanden, die die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer möglicherweise mindern. Ein klassisches Beispiel ist die Verschmelzung einer mitbestimmten Gesellschaft auf eine mitbestimmungsfreie SE oder auf eine SE mit geringerem Mitbestimmungsniveau; allein eine wachsende Anzahl von Arbeitnehmern reicht jedenfalls nicht aus.
Welche Gesetzesänderungen sind aufgrund des Koalitionsvertrags in naher Zukunft zu erwarten?
In dem Koalitionsvertrag kündigte die Ampelkoalition an, missbräuchliche Umgehungen geltenden Mitbestimmungsrechts verhindern zu wollen und sich dafür einzusetzen, dass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Außerdem soll die Konzernzurechnung aus dem MitbestG auf das DrittelbG übertragen werden, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.
Zu dem letztgenannten Vorhaben ist zu bemerken, dass sich durch eine Umgestaltung des DrittelbG hin zu den Zurechnungsregelungen des MitbestG der Kreis der Unternehmen, die von einer drittelparitätischen Mitbestimmung umfasst wären, deutlich ausweiten würde. So wären nach den genannten Plänen z. B. einem herrschenden Unternehmen eines Konzerns, das in der Rechtsform der AG, KGaA, GmbH, VVaG oder Genossenschaft organisiert ist, auch ohne Beherrschungsvertrag die Arbeitnehmer der von ihm abhängigen Unternehmen, z. B. wegen einer mehrheitlichen Beteiligung, zuzurechnen. Für viele Unternehmen würde dies die erstmalige Bildung von drittelparitätischen Aufsichtsräten bedeuten. Zwar bleibt abzuwarten, welche konkreten Anforderungen an die „faktisch echte Beherrschung" gestellt werden, jedoch ist zu erwarten, dass sie zumindest denen zur Konzernzurechnung nach § 5 MitbestG angeglichen werden. Ob dagegen auch die für die KG eingangs beschriebenen Zurechnungsregeln des MitbestG (§ 4) auf das DrittelbG ausgedehnt werden, ist unklar, denn diese Zurechnungsregeln zählen nicht zur Konzernzurechnung im engeren Sinne. Eine Zurechnung der Arbeitnehmer der KG ist aber auch jetzt schon nach dem MitbestG unter bestimmten Voraussetzungen über den allgemeinen Konzernzurechnungstatbestand der einheitlichen Leitung möglich.
Der in einer SE im Rahmen eines Beteiligungsverfahrens erzielte mitbestimmungsfreie Status soll nach dem Willen des Koalitionsvertrags nicht mehr dauerhaft erhalten bleiben können, wenn es zu einem Zuwachs von Arbeitnehmern bei der SE kommt. Fraglich ist allerdings, ob und wie dies umgesetzt werden kann, denn es handelt sich hier – anders als bei dem DrittelBG und dem MitbestG – nicht um rein nationale, sondern um europäische Regelungen. Die deutschen Mitbestimmungsregelungen können angesichts der EU-Niederlassungsfreiheit nicht auf ausländische EU-Gesellschaftsformen ausgedehnt werden und das SE-Recht beruht auf einer SE-Richtlinie und einer SE-Verordnung, deren Änderung ein Konsens auf EU-Ebene erforderlich macht. Die Konsensfähigkeit auf europäischer Ebene ist insoweit aber fraglich. Denkbar ist – ähnlich wie in Österreich – ein Versuch des Gesetzgebers, einen erheblichen Zuwachs von Arbeitnehmern unter den Begriff der strukturellen Änderung, die ein Beteiligungsverfahren erforderlich macht, einzuordnen. Ob eine solche Konkretisierung richtlinienkonform wäre, bleibt jedoch fraglich, da die Richtlinie vorherrschend die bestehende Mitbestimmung zum Zeitpunkt der Entstehung der SE und nicht die erst im Laufe der Zeit nach rein nationalen Vorgaben zu erwerbenden Rechte sichern soll.
Fazit zu einer zeitnahen Umsetzung und Handlungsempfehlung für Unternehmen ohne drittelparitätisch besetzten Aufsichtsrat
Zusammengefasst erscheint eine Änderung des DrittelbG unkompliziert möglich und könnte zügig umgesetzt werden. Eine solche Änderung des deutschen Mitbestimmungsrechts ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Unternehmen, die noch nicht in den Anwendungsbereich des DrittelbG fallen, sollten überprüfen, ob dies zukünftig unter Berücksichtigung der zu erwartenden Änderungen bei der Konzernzurechnung der Fall sein wird und ob sie ggfs. noch Umstrukturierungsmaßnahmen vornehmen möchten. In diesem Zuge ist die Umwandlungsrichtlinie (2019/2121) zur Erweiterung der grenzüberschreitenden Umwandlungen zu nennen, die durch das Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie vom 22. Februar 2023 und das Gesetz zur Umsetzung der Bestimmungen der Umwandlungsrichtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Januar 2023 umgesetzt wurde.
Ähnlich wie bei der Gründung der SE ist auch bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen, Spaltungen und Formwechseln ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren mit einer gesetzlich vorgesehenen Auffanglösung im Fall des Scheiterns der Verhandlungen durchzuführen. Dieses Verfahren ist aber auch dann schon verpflichtend, wenn ein Schwellenwert von vier Fünftel erreicht ist, der nach dem Recht des Wegzugstaates die Mitbestimmung auslöst. Die im Fall des Scheiterns der Verhandlungen greifende gesetzliche Auffanglösung führt dann zwar nicht zur Mitbestimmung, allerdings können solche Umwandlungsmaßnahmen als missbräuchlich gelten und sind einer Rechtmäßigkeitskontrolle des zuständigen Registergerichts unterworfen, so u. a.
- wenn die Zahl der Arbeitnehmer die Vier-Fünftel-Schwelle erreicht hat,
- im Zielland keine Wertschöpfung erbracht wird und
- der Verwaltungssitz in Deutschland verbleibt.
In diesem Zuge hat die Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat auf seine Bitte dahingehend Stellung genommen, dass eine Gesellschaft nicht allein durch den deutschen Gesetzgeber verpflichtet werden könne, bei nachträglichem Erreichen mitbestimmungsrechtlicher Schwellenwerte des Wegzugsstaates nachzuverhandeln. Dies sei in der Umwandlungsrichtlinie nicht vorgesehen und könne rechtssicher nur durch einen europäischen Rechtsakt gelöst werden.
Festzuhalten bleibt auch, dass eine Änderung des SE-Rechts auf EU-Ebene angesichts der unterschiedlichen Mitbestimmungsmodelle der Mitgliedsstaaten zeitnah nicht zu erwarten ist. Ob der deutsche Gesetzgeber das Risiko einer nicht richtlinienkonformen Konkretisierung des Begriffs der „strukturellen Änderung" eingehen wird, bleibt offen. Hervorzuheben ist aber, dass die SE zur Vermeidung der Mitbestimmung weiterhin Gegenstand reger Diskussionen und auch von Gerichtsurteilen ist und bleibt, wie z. B. das beim BAG (Az. 7 ABR 2/23) anhängige Verfahren zu den Fragen, ob der Eintritt einer arbeitnehmerlosen SE als Komplementärin einer SE & Co. KG eine strukturelle Änderung bei der SE oder das Ausnutzen des Einfriereffekts ein Missbrauch der SE darstellt oder ihr die Arbeitnehmer der KG nach dem SEBG zuzurechnen sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Vorlage des BAG an den EuGH zu nennen mit der Frage, ob das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer nachzuholen ist, wenn die arbeitnehmerlose Holding-SE nach ihrer Gründung herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften wird (BAG, Beschluss vom 17. Mai 2022, Az. 1 ABR 37/20).
Gern unterstützen wir Sie bei diesbezüglichen Fragen.
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