Pflicht zur Arbeitszeiterfassung

Zurück zur Stechuhr – jetzt aber wirklich?

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Am 13. September hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass Arbeitgeber*innen bereits nach aktueller Rechtslage verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu erfassen. Diese Entscheidung kam durchaus überraschend und hat in den letzten Tagen große mediale Aufmerksamkeit erregt. So ist von einem „Paukenschlag aus Erfurt" und erneut vom „Ende der Vertrauensarbeitszeit" zu lesen. Auch wenn bisher nur eine kurze Pressemitteilung des Gerichts vorliegt und noch viele Fragen offen sind, ist die Richtung klar: Alle Arbeitgeber*innen müssen künftig ein System zur Arbeitszeiterfassung vorsehen. Unsere erste Einschätzung dazu finden Sie in diesem Beitrag.

Die Vorgeschichte: Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes zur Arbeitszeiterfassung

Bereits im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) (C-55/18) entschieden, dass aus der Grundrechte-Charta sowie der EU-Arbeitszeitrichtlinie das Grundrecht von Arbeitnehmer*innen auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten folge. Die Mitgliedsstaaten müssten daher dafür sorgen, dass die Beachtung der Mindestruhezeiten sichergestellt und Überschreitungen der Höchstarbeitszeit verhindert werden. Hierfür sei es erforderlich, dass Arbeitgeber*innen ein objektives, verlässliches und zugängliches System einrichten, mit dem die von den Arbeitnehmer*innen geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Lesen Sie hierzu unseren Beitrag Zurück zur Stechuhr.

Die Entscheidung sorgte in der breiten Öffentlichkeit für Aufregung, da sie über die Vorgaben des deutschen Arbeitszeitgesetzes weit hinausging. Trotz vielfacher Ankündigungen hat der deutsche Gesetzgeber bisher keine konkreten Schritte unternommen, um die Entscheidung des EuGH im Arbeitszeitrecht umzusetzen und die Aufzeichnungspflichten unter Ausnutzung der vom EuGH ausdrücklich zugelassenen Gestaltungsspielräume europarechtskonform auszugestalten. 

Das Bundesarbeitsgericht hat nun Fakten geschaffen und anhand der bestehenden Rechtslage eine eigene Lösung zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH ins deutsche Arbeitsrecht entwickelt.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts: Arbeitszeiterfassung als Arbeitsschutzmaßnahme

Vordergründig hatte das Bundesarbeitsgericht (Beschluss vom 13. September 2022, 1 ABR 22/21) darüber zu entscheiden, ob ein Betriebsrat vom Arbeitgeber die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems verlangen kann. Der Betriebsrat einer stationären Pflegeeinrichtung hatte sich auf sein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Überwachungseinrichtungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) und ein entsprechendes Initiativrecht berufen, um eine elektronische Dokumentation der Arbeitszeiten der Beschäftigten zu erreichen.

Nachdem das Arbeitsgericht Minden und das Landesarbeitsgericht Hamm zu dieser Frage zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, verneinte das Bundearbeitsgericht ein Initiativrecht des Betriebsrates. Überraschend war allerdings die Begründung: Ein Initiativrecht des Betriebsrates scheide deshalb aus, weil der Arbeitgeber bereits aufgrund der Regelungen des Arbeitsschutzgesetzes und damit kraft Gesetzes zur Erfassung der Arbeitszeit seiner Beschäftigten verpflichtet sei. Das Bundesarbeitsgericht qualifiziert die Arbeitszeiterfassung somit als Arbeitsschutzmaßnahme, zu deren Einhaltung alle Arbeitgeber*innen bereits nach aktueller Rechtslage aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes verpflichtet seien. Wo eine gesetzliche Pflicht zur Vornahme einer Maßnahme bestehe, bleibe kein Raum für ein zusätzliches Initiativrecht des Betriebsrates.

Bedeutung und Folgen der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes

Die Entscheidung ist deshalb bedeutsam, weil das Bundesarbeitsgericht - im Vorgriff auf die immer wieder angekündigten Aktivitäten des Gesetzgebers - nunmehr aus dem Arbeitsschutzgesetz eine Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit ableitet, die über den im Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Umfang hinaus geht.

Klarheit dürfte jetzt darüber bestehen, dass alle Arbeitgeber*innen verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten vollständig zu erfassen. Der Verweis auf die fehlende gesetzliche Grundlage im Arbeitszeitgesetz wird kaum noch weiterhelfen, weil das Bundesarbeitsgericht mit seiner Entscheidung eine Rechtsgrundlage außerhalb des Arbeitszeitgesetzes gefunden bzw. "erfunden" hat.

Mindestanforderungen an Arbeitszeiterfassungssysteme noch unklar

Der bisher vorliegenden Pressemitteilung des Gerichts lässt sich nicht entnehmen, ob sich die Entscheidungsgründe auch dazu äußern werden, welche Mindestanforderungen ein Arbeitszeiterfassungssystem erfüllen muss. Solche Mindestanforderungen kommen sowohl im Hinblick auf die technische Ausgestaltung (elektronische oder analoge Aufzeichnung) als auch auf die inhaltliche Ausgestaltung (nur Dauer der Arbeitszeit/Pausen oder Ende und Anfang der Arbeitszeit/Pausen) in Betracht. Es spricht viel dafür, dass das Bundesarbeitsgericht in Anlehnung an die Entscheidung des EuGH ein objektives, verlässliches und zugängliches Erfassungssystem verlangt. Ob sich in den Entscheidungsgründen für die Beratungspraxis taugliche konkrete Vorgaben ergeben werden, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es das Bundesarbeitsgericht bei den abstrakten Vorgaben des EuGH belässt. Solange der Gesetzgeber nicht aktiv wird, bliebe es wie so oft den Arbeitsgerichten überlassen, Leitlinien für eine ordnungsgemäße Arbeitszeiterfassung zu entwickeln. Immerhin hat das Bundesarbeitsministerium schon neue Vorschläge in Aussicht gestellt.

Arbeitszeiterfassung für leitende Angestellte?

Ungeklärt ist zudem, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch für leitende Angestellte gilt. Sie unterfallen bislang nicht dem Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes. Demgegenüber erfasst das Arbeitsschutzgesetz auch leitende Angestellte, sodass derzeit nicht auszuschließen ist, dass künftig auch Arbeitszeiten von leitenden Angestellten zu erfassen sind.

Welche Folgen drohen bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung?

Ferner ist offen, welche rechtlichen Folgen ein Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung haben könnte:

  • Denkbar wäre, dass sich die Darlegungs- und Beweislast in Verfahren um die Vergütung von Überstunden - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - zu Lasten der Arbeitgeber*innen verschiebt, wenn sie die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten pflichtwidrig nicht erfassen. Dies hatte das Arbeitsgericht Emden im Jahr 2020 angenommen. Allerdings hatte ein anderer Senat des Bundesarbeitsgerichts im Mai 2022 entschieden, dass die Darlegungs- und Beweislast trotz fehlender Arbeitszeiterfassung weiterhin bei den Arbeitnehmer*innen liegt. Mehr hierzu in unserem Beitrag zur Überstundenvergütung.
  • In Betracht käme ein Bußgeld, sofern die zuständige Arbeitsschutzbehörde zuvor eine vollziehbare Anordnung zur Arbeitszeiterfassung erlassen hat und Arbeitgeber*innen dieser Anordnung zuwiderhandeln. Allerdings ist es aus unserer Sicht eher fernliegend, dass die Arbeitsschutzbehörden beginnen werden, proaktiv das Vorhandensein von Zeiterfassungssystemen zu prüfen.
  • Außerdem können Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften, die dem Schutz des einzelnen Beschäftigten dienen, Zurückbehaltungs- und Schadensersatzansprüche begründen. Ob ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit eine solche Schutzpflichtverletzung darstellt, erscheint aber mehr als fraglich. Letztlich dient die Aufzeichnungspflicht nicht unmittelbar dem Gesundheitsschutz, sondern kann allenfalls die Voraussetzungen dafür schaffen, Arbeitszeitverstöße zu erkennen und diesen anschließend zu begegnen.

Was ist zu tun?

Arbeitgeber*innen, die die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten bisher nicht bzw. nicht vollständig erfassen, werden sich darauf einstellen müssen, dass dies künftig einen Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz darstellt.

Dennoch sollten Arbeitgeber*innen zunächst die noch ausstehende Urteilsbegründung abwarten und dann in Ruhe prüfen, ob sich hieraus konkretere Handlungsvorgaben ergeben und wie diese im Unternehmen praxistauglich und unter Abwägung der Vor- und Nachteile umgesetzt werden können.

Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates beachten

Zu beachten ist, dass Betriebsräten bei der Aufstellung von Regelungen über den Arbeits- und Gesundheitsschutz ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht zusteht (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG), soweit die entsprechenden gesetzlichen Regelungen den Arbeitgeber*innen einen Handlungsspielraum lassen. Nachdem das Bundesarbeitsgericht die Arbeitszeiterfassung als Maßnahme des Arbeitsschutzes qualifiziert hat, wird man dem Betriebsrat daher ein Mitbestimmungsrecht über das „Wie" der Arbeitszeiterfassung zubilligen müssen. Sofern die Zeiterfassung elektronisch erfolgen soll, wäre ohnehin das Mitbestimmungsrecht bezüglich der Einführung und Anwendung elektronischer Überwachungseinrichtungen eröffnet (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).

Sprechen Sie uns gern an, wenn Sie zu diesem oder anderen arbeitsrechtlichen Themen Fragen haben oder unsere Unterstützung benötigen.

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